Skip to main content

05 “Sensemaking”: Deine Technik, um die Welt zu verstehen


von Achim Feige

Liebe Transformers, liebe Co-Creators, liebe Gestalterinnen und Gestalter einer neuen Zeit!

Sei stolz auf dich. In den vergangenen Wochen hast Du viel geleistet. Du hast Informationen gesammelt. Du hast im Ego Death für einige Momente das losgelassen, was dich so oft aufhält, im Privatleben wie auch im Unternehmen, und hast nun eine erste Ahnung davon, wie viel Potenzial Du eigentlich hast.

Aber es gibt eine neue Herausforderung.

Du hast den Berg bestiegen, Du bist aus Dir heraus getreten, hast einen Moment der “Ekstasis” erlebt. Nun kann es ernüchternd wirken, wenn man sich wieder der Welt zuwendet. Wie nun das Gelernte umsetzen? In der Welt herrscht weiterhin viel Chaos, viel erbitterter Streit der Meinungen, viel Egoismus – nur weil Du Dich verändert hast, gilt das noch lange nicht für alle.

Wir betreten jetzt eine neue Phase, jetzt beginnt unser Growing Up. Alles, was ich den Aufstieg auf den Berg genannt habe, das Entdecken der Selbstautorenschaft, die Flow-Techniken, die Transzendenz und den Ego-Tod, das war unser Showing Up. Wir haben uns mit Flow präpariert, uns selbst überwunden, uns geöffnet. Nun beginnt die zweite von drei Etappen: Growing Up. Das ist die Integration nach der Ekstasis.

Sie beginnt mit einer großen Herausforderung: Du kommst wieder in die Hochkomplexität zurück. Die Post-Truth-Society. Das ist unser Drama, wenn wir beginnen, uns radikal zu verändern. Es scheint manchmal unlösbar.

Aber nur auf den ersten Blick.

In Wirklichkeit ist es nicht nur lösbar, sondern der Weg ist vorgezeichnet. Du wirst die neuen Erlebnisse und die Welt zu einem neuen Sinn verbinden. Das musst Du sogar! Denn was würde passieren, wenn Du das nicht tust, wenn Du Deine aus dem Gipfel gesammelten Erkenntnisse nicht mit der scheinbar chaotischen Welt in einen Zusammenhang stellst? Dann stehen sie für sich und nützen Dir nichts. Es bleiben dann aufregende Ideen und Erlebnisse ohne Zusammenhang. Dann wächst Du nicht, integrierst die neuen Informationen nicht, bildest keinen neuen Sinn.

Das ist aber jetzt die große Aufgabe: Sinn bilden.

Wir werden ab jetzt mehr begreifen müssen, mehr Informationen halten müssen, auch widersprüchliche. Wir sind verloren, wenn wir glauben, irgendwo außen sei die Wahrheit zu finden. Wenigstens die Tagesschau ist immer verlässlich, muss nie hinterfragt werden? Falsch! Wenigstens diese eine Partei, oder jene andere Gruppierung, die hat immer recht? Auch falsch. So wird unser neues Denken nie mehr sein. Es gibt nicht einmal “die” Wissenschaft. Das war einer der großen Denkfehler in der Corona-Zeit, die als trauriges Beispiel für misslungene, falsche Debattenkultur in die Geschichte eingehen dürfte. Wie viel Rechthaberei ist damals mit dem festen Glauben an “die” Wissenschaft begründet worden – dabei gehört es zum Wesen der Wissenschaft, dass sie niemals eindimensional ist, dass jede These immer wieder auf den Prüfstand gehört, dass alles immer wieder hinterfragt werden muss.

Wir werden alle Quellen hinterfragen, alle Perspektiven einmal einnehmen und jedes Medium genau prüfen. Wir sind dazu verdammt, einen eigenen Sinn zu machen!

Die große Aufgabe ist: Sinn bilden. Sensemaking, so heißt das in der ganz aktuellen US-amerikanischen Philosophie.

Wir haben einen Berg bestiegen und waren oben am Gipfel, haben die Aussicht genossen. Wenn wir nun wieder hinabsteigen, gibt es genauso viel zu tun, wie auf dem Hinweg – denn wir müssen das Gelernte nun integrieren und unser neues Weltbild bauen. Sinn bilden heißt, Verbindungen herstellen. Neue Verbindungen. Die Etymologie von “Sinn” ist nicht ganz geklärt, aber vermutlich kommt das Wort vom althochdeutschen Wort für “Reisen”. Das passt zu unserem Denken! Wer reist, nimmt ganz viel wahr (das lateinische sentire für fühlen/wahrnehmen ist auch eine mögliche Wurzel von “Sinn”), und muss dies verbinden. Zusammenhänge herstellen. Eben: Sinn bilden.

Wir möchten wieder sagen können: “Das ergibt Sinn für mich.”

Der Philosoph Daniel Schmachtenberger sagt, wir brauchen “agency and not despair”. Schmachtenberger ist aus meiner Sicht eine ganz wichtige Stimme der Kulturkritik und Philosophie in den USA. Er hält sich von den Universitäten fern, gibt seine Vorträge im Internet oder bei seinem eigenen privaten Institut in Kalifornien. Es gibt keinen Wikipedia-Eintrag über ihn. Trotzdem haben sogar die Macher des diesjährigen großen Oscar-Gewinners “Everything Everywhere All At Once” ihn kürzlich als ihre wichtigste Inspiration bezeichnet.

Agency and not despair, das bedeutet: Wir wollen Handlungsfähigkeit, wir wollen wirken, wir nehmen die Dinge jetzt wieder in die Hand. (Das ist agency). Nur damit entgehen wir der Verzweiflung (despair). Ohne gutes Sensemaking können wir nicht einmal dazu aufbrechen, in der Welt zu handeln und etwas zu bewirken.

Du überlebst heute schon den Tag kaum, als Leader in der heutigen VUKA-Welt, wenn Du alles für bare Münze nimmst. (VUKA = volatil, unsicher, komplex und ambivalent.) Du musst Dir also Deinen Sinn machen. Beim Abstieg fragen wir uns also: Was habe ich hier nun erlebt, wie sieht meine neue Welt aus?

Ich möchte Dir die Tools dazu heute mitgeben. Ich habe dazu eine einfache Technik aus drei Fragen:

What is?

So what?

What now?

Im ersten Schritt fragst Du nach den Dingen: Was ist? Wir nehmen hierbei nur wahr. Wir sammeln Informationen und Daten, bewerten noch nicht, schauen hin, lassen die Welt hinein. Danach solltest Du Dich selbstkritisch fragen: Habe ich jetzt genug aufgenommen? Habe ich hinreichend viele verschiedene Perspektiven kennengelernt? Habe ich mich neuen Themen geöffnet?

Zweitens, wenn das geschehen ist, bildest Du Deine Hypothesen! Das steckt hinter der Frage: So what? Sie bedeutet: Was sagt mir das? Was lerne ich daraus? Wie hilft mir das, erfolgreicher zu sein, voranzukommen? Meine Abteilung besser zu leiten, meine Tasks klüger zu meistern, mein Leben besser im Griff zu haben? Kurzum: Welche Probleme kann ich denn nun damit besser lösen als bisher?

Und erst im dritten Schritt kommt das: What now? Da wirst Du konkret handeln. Da (erst) fragst Du Dich: Was sind die Action Steps?

Und nun hat der Satz “Das ergibt Sinn für mich” seine Berechtigung, nun kannst Du Dein Tun darauf aufbauen. Du kannst nun endlich bei Dir selbst und bei den anderen Sinn stiften. Wer diese drei Schritte des Sensemakings in sein tägliches Handeln eingebaut, sie etwa in Workshops einübt und mitnimmt in den Alltag, der hört dann offen und ohne Vorurteile zu, hält den inneren Raum lange offen, entscheidet dann bewusst und besonnen. Allein oder im Team.

Von diesem neuen Standpunkt aus wird es auch viel leichter, die Widersprüchlichkeiten im Unternehmen zusammenzuhalten. Denn mal ehrlich: All die ganzen Projekte, und alle gleichzeitig, wer soll da den Überblick behalten? So viele Stimmen reden im Unternehmen auf Dich ein, so viele Schulen und Richtungen wollen den Weg weisen. Auch da gibt es eine Antwort: Nicht jedem Trend hinterherlaufen! Innere Souveränität bedeutet, wie oben erklärt, die Welt wahrzunehmen und zunächst vorbeiziehen lassen. Alles auf sich einwirken lassen, dann erst handeln.

Mit dieser Synthese der verschiedenen Informationen bilden wir vorurteilsfrei unseren Sinn. Wir teilen nicht alles sofort in gut und böse, richtig und falsch ein. Zuerst hören wir zu und nehmen wahr. Nur so werden wir irgendwann zur Big Mind, die auch in der chaotischen Welt die Übersicht behält.

Wer die Integration, das Durchschauen und Verstehen meistern will, braucht auch Training. Denn dazu gehört Übung, und dazu gehören sinnvolle Praktiken, wie man Informationen aufnimmt.

Als Practice empfehle ich Dir deswegen diese Woche den so genannten Dopamin Effort. (Siehe unten.) Achte auf Deinen Dopamin-Kreislauf. Dopamin ist das Belohnungshormon im Gehirn. Es wird ausgeschüttet, wenn wir die 2000 Meter Schwimmen geschafft haben, wenn die komplexe Präsentation gut ankam, wenn das neue Produkt herauskommt. Earn it, integrate it! Wer nur genießt, führt sein Gehirn in die Sackgasse. Leider gehören solche falschen Praktiken des schnellen Genießens bekanntlich auch zu unserer Kultur: Alkohol, Internet-Porno, aufputschende Substanzen, schnelle Bestätigung durch Likes und Klicks. Ich fälle kein moralisches Urteil darüber, ich sage aber, dass sie alle neurologisch ungünstig sind. Dein Nervensystem darf nicht vergessen, dass die Götter vor den Erfolg eben die Arbeit gestellt haben.

Das heißt nicht, dass wir uns ab jetzt nur noch abmühen werden. Im Gegenteil. Sensemaking wird bald heißen, dass es leichter wird. Probier es aus! Der Weg lohnt sich.

Dein Achim